Moralisches Chaos
Serie: Gott mitten im Chaos | Bibeltext: Richter 19,1 – 21,25
Moralisches Chaos: Der Levit und seine Nebenfrau (Richter 19,1 – 21,25)
Die Geschichte beginnt so, dass jeder so lebte, wie es ihm passte, weil es keinen König gab (17,6+V1). Das Chaos geht also weiter. Da gibts einen Leviten, der im "Gebirge Efraim" (V1) lebt, wahrscheinlich nicht weit vom Haus Michas. Wahrscheinlich will er ein Leben in Frieden – ein Häuschen und eine Frau, nur weiss er leider nicht, wie das funktioniert. Und so «nimmt» er sich eine Nebenfrau (V1), was so viel heisst wie, er hat sich verlobt. Wie er sie behandeln wird, das werden wir noch sehen. Was uns aber auffällt, ist, dass keine Liebe erwähnt wird. Wieso Nebenfrau und nicht Frau, wird uns nicht gesagt.
Die Beziehung hält nicht lange: «Seine Nebenfrau aber mochte ihn nicht, und sie ging weg von ihm“ (V2). Sie geht zurück zu ihrem Vater, was dann so ausgelegt wird, dass sie ihm untreu war. Für sie war ihr Mann mühsam, irgendwie war etwas mit ihm faul. Irgendwie ist da ein tieferes Problem.
Pseudo-Versöhnung (19,3-9)
Und ihr Mann machte sich auf und ging ihr nach, um ihr zu Herzen zu reden und sie zurückzubringen (V3a)
Er lässt seiner Frau vier Monate Zeit (V2), bevor er ihr nachgeht. Er hatte also viel Zeit darüber nachzudenken, was passiert ist. Er möchte seine Nebenfrau, die ihm davongelaufen ist, zurück. Er nimmt Knecht und Esel mit (V3b), er hat das sorgfältig geplant. Er hat vor, mit ihr «freundlich mit ihr zu reden» (3a LU). Der Levit hat also gute Absichten und möchte sich mit ihr und ihrem Vater versöhnen. Als er ankommt, kommt ihm der Vater «freudig entgegen» (V3c). Das tönt doch schon mal vielversprechend.
Der Vater möchte eine gute Beziehung mit dem Leviten. Er lässt es seinem Gast gut gehen und versorgt ihn mit Wein und Essen ohne Ende – immer wieder möchte er, dass er länger bleibt (V4-9). Also alles gut, oder? Was komischerweise fehlt, ist ein Interesse an seiner Tochter. Sie reden auch nicht darüber, weshalb sie weggelaufen ist – irgendwie fehlt da sowas wie Versöhnung. Hat der Levit vergessen, wieso er hierhergekommen ist? Die beiden Männer haben es gut zusammen, und die Frau ist im Hintergrund. Er spricht nicht einmal mit seiner Frau. Wollte er ihr nicht zu Herzen reden? Er ignoriert sie aber einfach. Erst als der Levit darauf besteht, dass er jetzt wirklich abreisen will, heisst es «und seine Nebenfrau war bei ihm.“ (V10c) Was ist da genau gelaufen? War sie einverstanden, wieder mit ihm zu gehen? Gab es doch noch eine Versöhnung? Viele offene Fragen, und der Charakter von dem Leviten ist schon mal fragwürdig. Keine guten Vorzeichen.
Vergewaltigung (19,10-30)
Weil sie erst spät aufbrechen, kommen sich nicht weiter als Jebus, zehn Kilometer nördlich von Bethlehem. Dort fragen sie nach einer Übernachtungsmöglichkeit, finden aber nichts. Darum ziehen sie ein Dorf weiter. In Gibea bei den Benjaminitern kommen sie an, als die Sonne untergeht (V10-14). Doch auch da haben sie kein Erfolg ein Bett zu finden, und deshalb gehen sie auf den offenen Platz der Stadt und setzen sich einfach mal aus Frust hin (V15b). Nach längerem peinlichem Warten, kommt schlussendlich ein alter Mann aus Efraim, der momentan in Gibea wohnt. Er hat Mitleid mit ihnen, und nimmt sie ihn seinem Haus auf (V16-21). Er zeigt ihnen Gastfreundschaft und sie haben bei ihm einen gemütlichen Abend– bis alles anders kommt.
Während dem Essen klopft es an der Tür, und Männer drängen nach innen. Ein Albtraum beginnt. Wie bei Sodom in Genesis 19 verlangt eine Meute von nichtsnutzigen Männern, dass der Gastgeber den Leviten herausgeben soll, damit sie mit ihm verkehren können (V22).[1] Es wird uns nicht gesagt, was ihr Motiv ist. Wollen sie den alten Mann als Gastgeber demütigen? War es pure Fremdenfeindlichkeit? Oder, ist ihre Lust mit ihnen durchgegangen? Wieso fragen genau dieser Leviten? Das Ganze ist komisch.
Der Gastgeber ist schockiert und seine Reaktion schockiert uns noch mehr, denn er ist genauso brutal, wie die Männer vor der Tür. Um seinen männlichen Gast zu schützen, bietet er als Ersatz seine Tochter als Jungfrau und dazu die Nebenfrau vom Levit:
Nicht, meine Brüder! Tut nichts Böses! Nachdem dieser Mann in mein Haus gekommen ist, dürft ihr eine solche Schandtat nicht begehen! Seht, da sind meine Tochter, die Jungfrau ist, und seine Nebenfrau. Die will ich herausgeben, und ihr könnt ihnen Gewalt antun und mit ihnen machen, was gut scheint in euren Augen; diesem Mann aber dürft ihr nichts antun, nicht diese Schandtat. (V23-24)
Hier wird alles verdreht – das Missverständnis vom Mann, wofür er als Gastgeber verantwortlich ist, bis hin den Begriff «Böses», «Schandtat», «Gewalt antun» «mit ihnen machen was gut scheint in euren Augen», «gut!» Was ist da gut!? Sind Frauen etwa Wegwerfartikel, und Männer nicht?! Hat er als Vater keine Verantwortung für seine Tochter? Dieser Typ ist doch völlig durchgeknallt!!!
Jetzt kommt es dick! Die Tochter vom Gastgeber wird durch den Leviten gerettet. Der packt nämlich seine Nebenfrau und führt sie zu den Männern hinaus (V25), und plötzlich geht es nur noch um sie. Die Männer draussen vergessen völlig, dass sie eigentlich «den Mann» (V22) wollten, und sie vergessen auch das der alte Typ eigentlich zwei Frauen versprochen hatte, um ihre Lust zu befriedigen. Sie misshandeln die Nebenfrau «die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgen» (V25). Grauenhaft! Als die Halunken schliesslich genug haben, taumelt sie zurück zur Haustür und «bricht dort zusammen» (V26). Sie hat keine Kraft mehr, um an die Tür zu klopfen oder um nach Hilfe zu schreien. Wenn wir jetzt meinen, das kann nicht mehr schlimmer kommen, dann liegen wir falsch.
Am Morgen steht der Levit auf – wie es aussieht, hat er gut geschlafen – und jetzt macht er sich bereit für die Weiterreise (V27). Als er die Tür öffnet, liegt seine Nebenfrau vor dem Eingang «mit den Händen auf der Schwelle“ (V27), so wie wenn sie stumm um Hilfe fleht. Aber den Leviten berührt das nicht. «Steh auf», sagt er ihr, «lass uns gehen» (V28). Keine Antwort. Also lupft er sie auf den Esel und geht nach Hause.
Ist die arme Frau bewusstlos oder schon tot? Und wenn ja, warum lässt er sie nicht einfach dort, wenn er sich doch gar nicht um sie kümmert? Die Frau hat alles verloren: Würde, Menschlichkeit und ihr Leben. Der Levit behandelt sie, wie seinen Besitz. Er nimmt sie nach Hause, weil sie ihm nichts mehr nützt.
Der Schreck (19,29+30)
Jetzt macht er aus ihr zwölf Päckli; Stück für Stück in ein Päckli (V29a – stark vereinfacht)
[Und als er in sein Haus kam, nahm er das Messer, ergriff seine Nebenfrau und zerstückelte sie in zwölf Einzelteile. (V29a)]
Diese zwölf Päckli schickt er an alle Gebiete Israels. Das ist jetzt noch die endgültige Entwürdigung dieser Frau. Sie bekommt nicht einmal eine Beerdigung. Lebt sie bei dieser «Päckliaktion» noch oder ist sie schon tot? Dem Leviten ist es egal. Für ihn ist sie kein Mensch mehr – nur noch ein Objekt, um anderen einen Schreck einzujagen, damit sie das machen, was er will. Absoluter Missbrauch, schrecklich!!! Und das hat genau die Wirkung, die der Levit sucht.
[Und jeder, der es sah, sprach: Solches ist nicht geschehen und nicht gesehen worden seit dem Tag, an dem die Israeliten aus dem Land Ägypten heraufgezogen sind, bis auf den heutigen Tag. Denkt darüber nach, beratet und redet.] (V30)
Wo immer die grausigen «Päckli» ankommen, gibt es die gleiche Reaktion: Das gibt es doch nicht! Ein Verbrechen! Da muss etwas gemacht werden! Das heisst, in Israel gibt es noch einen Funken von Recht und Ordnung. Die Geschichte könnte also doch noch gut ausgehen. Doch auch das wird noch verdreht, weil, der Levit ist noch nicht fertig. Was jetzt eigentlich folgen sollte, wäre ein Prozess mit einem Gericht. Doch auch das wird noch korrumpiert: Er stellt die Situation falsch dar, und löst damit einen Tsunami vom Grauen aus, was am Schluss fast auch noch Israel zerstören wird.
Manipulation (20,1-7)
Vertreter aller Stämme mit Ausnahme von Benjamin versammeln sich in Mizpa in der Nähe von Gibea[2], um zu entscheiden, was zu tun ist. Es kommen 400'000 bewaffnete Männer zusammen. Für die damalige Zeit eine massive Armee. Jetzt hat der Levit eine Bühne und kann die Leute aufwiegeln. Wieder ist uns nicht klar, um was es ihm geht. Was hat er hier vor? Hören wir, was er zusagen hat:
Und die Israeliten sprachen: Sagt, wie konnte diese Untat geschehen? Und der levitische Mann, der Mann der getöteten Frau, antwortete und sprach: Ich war nach Gibea gekommen, das zu Benjamin gehört, ich mit meiner Nebenfrau, um dort über Nacht zu bleiben. Die Herren von Gibea aber erhoben sich gegen mich und umstellten in der Nacht das Haus in böser Absicht gegen mich. Mich wollten sie erschlagen, und meine Nebenfrau haben sie vergewaltigt, und sie starb. Da ergriff ich meine Nebenfrau und habe aus ihr Päckli gemacht [zerstückelte sie] und sandte sie ins gesamte Gebiet des Erbbesitzes Israels; denn sie haben Unzucht und eine Schandtat begangen in Israel. Seht, ihr Israeliten seid alle hier; fällt hier eine Entscheidung und fasst einen Entschluss! (V3-7)
In seinem psychopathischen Zustand hat der Levit sich davon überzeugt, dass er das Opfer ist. Er will sich an den Leuten von Gibea rächen und möchte dafür seine Landsleute brauchen. Und so gibt er seine Version der Geschichte. Die Tatsachen sind nur ein bisschen verdreht, und schon gibt es einen anderen Eindruck von dem, was in Kapitel 19 passiert ist. Es waren «nichtsnutzige Männer» (V22), die das Verbrechen begingen. Der Levit sagt jetzt aber, es waren die «Herren von Gibea» (V5). Der Erzähler sagte, sie wollten mit dem Leviten Sex haben; er aber sagt: »Sie wollten mich töten« (V5). Der Erzähler in Kapitel 19 sagt, dass der Levit seine Nebenfrau "ergriff" und sie "zu ihnen hinausführte" (V25); er sagt nur, »sie haben meine Nebenfrau vergewaltigt« (V5). Wie die Frau starb, wird in Kapitel 19 nicht beschrieben. War es die Handlung vom Mob, oder war es der Levit, der sie dann in 12 Päckli verpackte? So wie es der Levit darstellt, waren es die Vergewaltiger, die sie getötet haben (V5). Kurz gesagt, er ist ein Opfer und schiebt die Schuld für die Gräueltaten den Herren von Gibea in die Schuhe (V6). Er ist der «Unschulds-Engel» und kann jetzt andere für seine Zweck brauchen. Der Levit nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau, und das ist dann wieder ein Bild für Israel als Ganzes – wo sich von ihm manipulieren lässt. Er ruft ihnen zu «überlegt euch gut, was da zu tun ist» (V7). Für ihn ist klar, sie sollen sich für ihn an den Männern in Gibea rächen. Doch uns ist jetzt schon klar; mit so wenigen Beweisen, kann das nur schief gehen. Er kann seine Hände nicht in Unschuld waschen, denn Halbwahrheiten genügen nicht. Der Levit ist mitschuldig und das Resultat schrecklich.
Blutbad (20,8-48)
Was folgt ist ein Bürgerkrieg sondergleichen. Die Israeliten, verlangen, dass das Volk von Gibea die Schuldigen zur Bestrafung ausliefert (V8-13a). Wo die Männer von Gibea sich weigern, und mit ihnen in die Schlacht ziehen, da schickt Israel Kampftruppen (V13b-17). Aber bevor die Schlacht losgeht, gibt es einen Hoffnungsschimmer:
Und sie machten sich auf, zogen hinauf nach Bet-El und befragten Gott, und die Israeliten sprachen: Wer von uns soll zuerst hinaufziehen zum Kampf gegen die Benjaminiten? Und der HERR sprach: Juda zuerst. (V18)
Was ist da in ihrem Kopf los? Für sie ist es keine Frage, ob ihr Plan richtig ist. Sie fragen Gott nicht, ob ihr Plan richtig ist. Sie sind schon zum Krieg ausgezogen, und für sie ist klar, dass Gott da mitmacht. Ihre Frage ist rein technischer Natur: Wer soll als erstes in den Kampf? Und Gott antwortet mit «Juda zuerst». Die Frau kam ja aus dem Stamm Juda, und da macht das Sinn (19,1). Doch wir haben ungutes Gefühl, denn die Frage und Antwort erinnert uns an den Anfang vom Buch (1,1+2). Am Anfang war Israel eine Einheit, jetzt da sind sie gespalten. Am Anfang kämpften sie gegen die Kanaaniter, da kämpfen sie gegeneinander. Am Anfang gab Josua klare Anweisungen, da handeln sie nach den verdrehten Darstellungen von einem Leviten. In Kapitel 1 versprach Gott den Sieg, da sagt er lediglich wer zuerst ausziehen soll. Und, wie kommt es raus? Eine schreckliche Niederlage. 22'000 Mann sterben und geschlagenen Israeliten kommen weinend zurück zu Gott (V19-23a).
Und so geht das noch einmal. Beim 2. Mal 18'000 Tote (V25). Jetzt kommen sie nicht mehr draus.
Da zogen alle Israeliten hinauf, das ganze Volk, und sie kamen nach Bet-El. Und sie weinten und blieben dort vor dem HERRN, und sie fasteten an jenem Tag bis zum Abend und brachten Brandopfer und Heilsopfer dar vor dem HERRN. Dann befragten die Israeliten den HERRN (…): Sollen wir noch einmal ausziehen zum Kampf gegen die Benjaminiten, unsere Brüder, oder soll wir es lassen? (V26-28a)
Sie sind am Boden zerstört. Sie wollten frei werden – frei von diesen Qualen, geheilt von ihren Wunden, was nur Gott ihnen geben kann. Doch sie sitzen so tief in der Sauce, dass sie da nicht so schnell rauskommen. Sie haben nur ein Weg und der ist vorwärts, in der Hoffnung, dass Gott mit ihnen Erbarmen hat. Und letzten Endes sind sie überzeugt, der Alptraum wird bald vorbei sein: »Und der HERR sprach: Zieht hinauf, denn morgen werde ich sie in deine Hand geben.« (V28b). Endlich das Versprechen, wo sie brauchen. Noch eine Schlacht, noch ein letzter Kampf, und sie werden gewinnen.
Und so ziehen sie ein drittes Mal gegen Gibea. Aber dieses Mal legen einen Hinterhalt (V29a), und täuschen einen Frontalangriff vor, um die Benjaminiten aus der Stadt zu locken und dann die Stadt herunterzubrennen. Die Männer aus Gibea realisieren bald, dass die Situation hoffnungslos ist, und flüchten. Die Israeliten gehen ihnen hinterher (V29b-42). Und so kommt es zu einem Gemetzel bis nur noch 600 Benjaminiter vorig sind, die sich im "Felsen von Rimmon" verstecken (V47). Jetzt, wo es fast aus ist mit den Benjaminiten, entscheiden die Israeliten, sie haben Besseres zu tun, als die Benjaminiten auszurotten. Und so lassen sie sie und kehren um – um alles, was auch nur irgendwie nach Benjaminiter schmeckt zu töten. Sie setzen alle ihre Städte in Brand, auch Tiere werden nicht verschont. Und am Schluss vom Tag sind 25'000 Benjaminiter tot (V43-48).
Und, ist das jetzt Gerechtigkeit? Der Tod der Nebenfrau ist gerächt. Die Vergewaltiger und diejenigen, die sie beschützt haben, wurden gerächt. Doch da gibt es noch ein paar Fragen. Zu welchem Preis? Mehr als 50’000 kampftüchtige Männer tot, dazu Zivilisten – Männer, Frauen und Kinder. Ist das Gerechtigkeit? Wird so Recht und Ordnung wieder hergestellt? Ist das nicht eine Schande? Und dann kommt noch dazu, dass Gott bei alle dem mitgemacht hat – was sollen wir davon halten? Er hat ihnen zum Sieg verholfen, heisst das, dass Gott damit okay ist? Und, was ist mit dem Leviten, der mit seiner Verdrehung der Tatsachen, alles in Gang gebracht hat? Er wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Wie geht es ihm jetzt? Lebt er noch? Oder versteckt er sich auch irgendwo in einem Felsen? Wird er auch irgendwann mal noch Rechenschaft abgeben müssen für das, was er angestellt hat?
Eines ist sicher: Israel hat sich selbst kaputt gemacht und der Zusammenhalt im Volk ist dahin. Sie sind an einem dunklen Ort gelandet. Die Konsequenz von dem, dass «jeder tat, was in seinen Augen recht war».
Gott die Schuld geben (21,1-7)
Als der Wahnsinn vorbei ist und das Adrenalin runterkommt, werden die Israeliten sich bewusst, was sie angestellt haben. Der Stamm Benjamin ist kurz vor dem Aussterben. Um die Sache noch schlimmer zu machen, erinnern sie sich jetzt (zu spät) an einen Eid, den sie in Mizpa geschworen hatten: "Keiner von uns soll seine Tochter einem Benjaminiten zur Frau geben." (V1). So sind die 600 verbliebenen Männer, entweder dazu verdammt kinderlos zu sterben, oder Ausländer zu heiraten. In beiden Fällen würde der Stamm Benjamin würde aufgelöst.
Komisch – nach diesem Gemetzel machen sie sich plötzlich Sorgen um den Stamm Benjamin. Die Realität nach einer Schlacht sieht halt eben anders aus, als wenn man mittendrin ist. Am Schluss ist der Zusammenhalt eben doch wichtiger. Sie wollen den Schaden wiedergut machen, aber wie? Und so kommen sie vor Gott.
Und das Volk kam nach Bet-El, und sie blieben dort bis zum Abend vor Gott, und sie begannen laut zu weinen und sprachen: Warum, HERR, Gott Israels, ist das in Israel geschehen, dass heute ein Stamm von Israel fehlt? (V2-3)
Ist das nicht ein guter Anfang, dass sie traurig sind und herausfinden wollen, was was Gott dazu meint – jetzt kommt es gut. Doch weit daneben. Sie geben keine Fehler zu, und sie bitten Gott auch nicht um Hilfe. Ihre Frage von «Warum» ist mehr eine Anklage: «Warum, Herr, hast du das zugelassen? Du hast uns doch gesagt, wir sollen weitermachen, als wir aufhören wollten? Warum, Gott, hast du uns das angetan?" Gute Frage. Ja, Gott hat die Benjaminiter bestraft und am Schluss leidet ganz Israel.[3] Was da in Gibea passiert, betrifft nicht nur ein Stamm. Das Problem ist nur, dass diejenigen, welche die Frage stellen, nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Sie waren doch diejenigen, die die Frauen der Benjaminiter getötet haben – das geschah ja erst nach dem Kampf (20,48).
Sie sind schuld, und nicht Gott. Jeder Versuch, das um zu drehen, wird das Ganze noch schlimmer machen. Gott für unsere Probleme die Schuld zu geben, die wir uns selbst eingebrockt haben, ist eine uralte Strategie. Aber es funktioniert nicht, weil Gott sich nicht täuschen lässt. Wenn da Heilung passieren soll, dann fängt das damit an, Verantwortung für unser eigenes Handeln zu übernehmen. Gott durchschaut die Israeliten und lässt sich von ihren Tränen nicht täuschen. Er gibt keine Antwort.
Andere zur Kasse bitten (21,5-23)
Jetzt realisieren die Israeliten, sie müssen sich selbst helfen. Um eine lange Story kurz zu machen, sie gehen am Schluss und Metzeln das Lager von Jabesch in Gilead, weil sie nicht an ein Treffen kamen (V8-10). Sie tun so, also ob das mit Gerechtigkeit zu tun hat, doch das Ganze ist nur ein Trick, um ihr Problem mit den Benjaminitern zu lösen. Was da passiert ist unglaublich. Alle werden getötet nur die Jungfrauen nicht. Und so brachten sie 400 junge Frauen, die noch Jungfrauen waren, nach Schilo, und gaben sie den Benjaminitern. Nur, da fehlten noch 200, und so kommen sie auf die Idee, das «Fest für den Herrn» (V19) zu brauchen, wo die Mädchen jedes Jahr in den Weinbergen in Schilo tanzten. (V21a). Sie sagten den vorigen 200 Benjaminitern, sie sollen sich verstecken und im richtigen Moment ein Mädchen schnappen (V21b).
Wir sind am Tiefpunkt der Geschichte. Da ist alles falsch – wirklich alles. Für das, dass ihnen ihr Eid mit Gott so wichtig ist (V1+5), ist das doch ziemlich unter jeder Kanone. Sie ehren Gott damit überhaupt nicht! Schockierend an dem allem ist, dass sie die Frauen missbrauchen. Was mit der Vergewaltigung der Nebenfrau in Gibea anfing, führt am Schluss zur Vergewaltigung von 400 Jungfrauen in Jabesch-Gilead, und mit dem Kidnappen der 200 Jungfrauen in Schilo. Und dann haben die Täter noch die Frechheit sich eine Entschuldigung zurecht zu legen, damit sie ihre Hände in Unschuld waschen können:
Und wenn ihre Väter oder ihre Brüder kommen, um mit uns zu streiten, werden wir ihnen sagen: Verschont sie. Denn nicht jeder von ihnen hat sich eine Frau genommen im Krieg. Ihr habt sie ihnen ja nicht selbst gegeben, sonst wäret ihr jetzt schuldig. (V22)
Da haben wir es also. Frauen entführt, Protest unterdrückt, und niemand hat einen Fehler gemacht – alles aus Mitleid mit den Benjaminitern und aus Treue zum Eid mit Gott. Doch die Wahrheit ist, dass die Führer von Israel andere gezwungen haben, das zu tun, was sie selbst geschworen hatten, nicht zu tun – nämlich ihre Töchter als Frauen an die Benjaminiten zu geben. So wird ihre Schlaumeierei vertuscht. Problem gelöst – und jegliche Moral mit den Füssen zertrampelt.
Sie haben sich ihre eigene Welt so zurechtgebogen, und alles in Schwarz und Weiss eingeteilt wird – und damit stürzt Israel in einen moralischen Bankrott. Das Buch Richter ist fast fertig. Sind sie jetzt erledigt? Aus und vorbei? Nicht ganz. Es gibt da noch ein paar Verse, die uns einen Hoffnungsschimmer geben.
Unerwartete Hoffnung (21,23b–25)
Dann gingen sie und kehrten zurück in ihren Erbbesitz. Und sie bauten die Städte wieder auf und wohnten darin. Und zu jener Zeit gingen auch die Israeliten von dort auseinander, jeder zu seinem Stamm und zu seiner Sippe, und sie gingen weg von dort, jeder in seinen Erbbesitz. (V23b-24)
Nach all dem Chaos und dem Sturzflug, die Israel in den letzten Kapiteln erlebt hat, gibt es nicht einfach nur Vergessen. Nein, sie kehren zurück und bauen wieder auf. Sie gehen zurück in ihre Städte, Stämme und Familien – sie brauchen wieder Normalität. Wie kann das sein? Vieles ist da falsch gelaufen, und da kann man doch nicht einfach zurück zum Alten? Sie haben versucht, die Situation zu verbessern, und dadurch noch verschlimmbessert.
Der Schlüssel liegt im Wort Erbbesitz: »Dann kehrten sie zurück in ihren Erbbesitz... von dort, jeder in seinen Erbbesitz« (V23+24 vereinfacht). Ihr «Erbe» verbindet sie mit ihren Wurzeln und der Möglichkeit einer Zukunft. Genauer gesagt, es geht um Gott – um seine Verheissungen und Treue. Gott hatte ihnen von Genesis bis Josua immer wieder versprochen, ihnen das Land Kanaan als Erbe zu geben. «So nahm Josua das ganze Land ein, (…) und gab es Israel als Erbbesitz, nach den Abteilungen ihrer Stämme“ (Josua 11,23) und am Schluss fasste er es so zusammen: «Von all dem Guten, das der HERR dem Haus Israel zugesagt hatte, war nichts dahingefallen; alles war eingetroffen.“ (Jos 21,45). Am Schluss von Josua heisst es, „Dann entliess Josua das Volk, einen jeden in seinen Erbbesitz.“ (Jos 24,48) Dass jetzt der Richter auch so endet, grenzt an ein Wunder. Das zeigt uns, Gott hat sein Volk nicht verlassen; es gibt noch Hoffnung. Die Verheissung vom Erbe steht immer noch.
Der letzte Vers erinnert uns dann an das Problem, das Israel fast zum Verhängnis wurde – alles hängt an einem Faden: «In jenen Tagen gab es keinen König in Israel; jeder tat, (was ihm passte) was in seinen Augen recht schien“ (V25). Diese Worte schauen auf dunkle Tage zurück, die nun vorbei sind. Mit Gott hat Israel eine Zukunft. Nach dem Leviten mit seiner Nebenfrau und dem Bürgerkrieg kommen Ruth und Boas, Hanna und Samuel, Saul, David und Salomo – und schliesslich Einer, der grösser war als Salomo, der einen neuen Bund, ein grösseres Erbe und eine Hoffnung aufrichtete, von der Israel nur träumen konnte. Später schaut der Hebräer im Neuen Testament auf die Zeit der Richter zurück und findet erstaunlicherweise Glaubenshelden (Hebräer 11,32-33)! Die am Schluss vom Buch Richter waren sie zwar abwesend, aber es gab sie trotzdem.
Schlussgedanken
Jetzt fragt ihr wahrscheinlich: Warum finden wir in der Bibel solche Geschichten? Ich habe mir das lange überlegt, und ich habe einen Grund gefunden: Gott ist mitten im Chaos von unserem Leben präsent. Das Volk Israel befragt Gott, weint vor ihm, und bringt ihm Opfer, und in Schilo gibt es sogar ein Fest für ihn. Aber sie nehmen Gott nicht ernst. Sie haben Glauben, aber machen dann doch was sie wollen.
Ich glaube die Geschichte will uns Mut machen. Ihr meint vielleicht, dass in unserer Zeit ein Chaos herrscht und die Moral mit Füssen zertrampelt wird. Vielleicht denken wir, «meine Familie ist ein Chaos, wie kann daraus nur etwas werden.» In solchen Situationen will und diese Geschichte ermutigen: Gott ist auch im Chaos präsent und wirkt. Es gibt nämlich ein Geheimnis in dieser letzten Geschichte vom Richter!
Während auf der Bühne vom Richter ein solch riesiges Chaos herrscht, läuft hinter der Bühne im Buch Ruth auch eine Geschichte. Die Geschichte von Ruth spielt in der Zeit des Richters. Das Buch Ruth ist eine leise, liebevolle Geschichte, die den Retter dieser Welt vorbereitet. Ja, aus der Linie von Ruth und Boas kommt am Schluss Jesus. Und der verkündet uns das Reich Gottes und lebt uns vor, wie das geht.
Die Geschichte von Ruth geschieht in derselben Gegend und zur selben Zeit wie diese Geschichte. Das heisst, Gott ist mitten im Chaos schon dran seinen Plan B aufzubauen. Israel merkt das da im Richter gar nicht, aber eben die beiden Bücher gehörten zusammen.
In diesem Sinne ist das Chaos da, um uns zu zeigen: Ihr meint, unsere Welt wird immer chaotischer. Alles schon mal da gewesen! Und genau da mitten in dieser Story vom Chaos wirkt Gott – und zwar so, dass wir völlig überrascht werden und paff sind.
Gott ist immer wieder dran, und sagt uns, «Siehe, ich mache alles neu!» (Off 21,5).
Was nehme ich aus dieser Geschichte mit?
Ich frage mich immer, was will Gott durch diese Geschichte zu mir sagen? Das ist mir ein Punkt aufgegangen: Ein Mensch macht den Unterschied. In der Geschichte schafft ein Levit mit der Vertrüllung der Wahrheit ein riesen Chaos. Gott wird befragt und Gott gibt sogar Antwort und trotzdem gibt es ein Chaos.
In der Geschichte von Ruth ist es eine Ausländerin. Sie war nicht einmal eine Israelitin! Als Noomi sie nach Hause sendet, da sagt sie die berühmten Worte «Wo du hingehst, da gehe ich auch hin.» Wir werden nächste Woche diese Geschichte genauer anschauen, aber es ist eine verblüffende Geschichte. Sie ist Noomi treu und dadurch wird sie von Gott gesegnet. Am Schluss wird sie zum Rettungsplan von Gott – sie ist 10fache Urgrossmutter von Jesus.
Der Unterschied zwischen dem Levit und Ruth ist ein kleiner, aber feiner. Der Levit verdreht die Tatsachen, und macht ein riesen Drama. Hat Geltungsdrang und möchte Gerechtigkeit. Ruth ist eine demütige Frau, die einfach stur Noomi und ihrem Gott gegenüber treu ist. Sie nimmt den Glauben von Noomi an, und wird so zum Segen für Israel.
Ich staune immer wieder darüber, wie ein Mensch, einen Unterschied machen kann.
Vor einer Woche nahm ich per Livestream an der Beerdigung von einem Menschen teil, der in meinem Leben ein riesen Unterschied machte. Ich hatte damals in meinem Leben ein Chaos. Und wenn ich im Umfeld mit meinen Freunden sprach, dann sagten sie, «Willkommen in unserer Welt». So quasi, das gehört zum Leben. Doch ich wollte mich nicht damit zufriedengeben. Und so sandte ich ein Email an eine Organisation, die für Frieden und Lebensveränderung stand. Ich wusste nicht, was ich da tat. Dieser Mann hat dann geantwortet und mit Gottes Hilfe bin ich heute, wer ich bin.
Jeden Morgen nahm er sich Zeit, um auf Gott zu hören: Wo könnte ich einen Unterschied machen?
Du kannst in deinem Umfeld einen Unterschied machen. Nicht mit riesen Drama, sondern ganz leise, wie eine Ruth, und dafür arbeiten, dass diese Welt verändert wird. Entscheidend ist der Segen Gottes, und dieser ist ganz fragil. Hängt manchmal an einem Faden.
Gott ist auch mitten im Chaos am Wirken. Hören wir auf seine leise Stimme und behalten den Fokus, und er spricht uns zu, «Siehe ich mache alles neu!»
Wir singen nun das Lied «Die Schöpfung singt». Gott ist souverän und hät alles im Griff, auch wenn es bei uns drunter und drüber geht, und dafür wollen wir ihn anbeten.
[1] Wörtlich «wir wollen ihn erkennen» (ELB). In Vers 25 wird dann klar, um welches «erkennen» es sich handelt.
[2] Mizpa liegt im zentralen Hochland, sechseinhalb Kilometer nordnordwestlich von Gibea
[3] Vers 15: «Dem Volk aber tat es leid um Benjamin, denn der HERR hatte einen Riss gemacht in die Stämme Israels.“ Doch in Vers 16 (Denn die Frauen von Benjamin sind ausgerottet) geben die Israeliten indirekt zu, dass sie selbst alles noch schlimmer gemacht haben. Sie, und nicht Gott, sind es, die alle potenziellenFrauen der Benjaminiten getötet haben.
